Die Sprache der Berührung

Aus: „Anam Cara, Das Buch der keltischen Weisheit“,
John O’Donohue, S. 91. ff

Unser Tastsinn setzt uns auf besonders intime Weise mit der Welt in Verbindung. Das Auge als die Mutter der Distanz zeigt uns, dass wir uns ausserhalb der Dinge befinden.
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Berührung und Tastsinn versetzen uns aus der Anonymität der Distanz in die Intimität der Zugehörigkeit. Die Menschen bedienen sich ihrer Hände, um sich zu berühren; Hände erforschen, erspüren die Aussenwelt. Hände sind wunderschön – sie sind, wie Kant sagte, der sichtbare Ausdruck des Geistes oder der Seele. Mit unseren Händen greifen wir aus uns hinaus, die Welt zu berühren. Vor allem aber finden Hände im menschlichen Berühren die Hände, das Gesicht, den Körper des Anderen. Die Berührung kehrt heim zu sich selbst.

Der Akt des Berührens bringt uns mit der Welt des Anderen in Berührung. Das Auge übersetzt seine Objekte mühelos in Verstandesbegriffe. Das Auge vereinnahmt alles entsprechend seiner eigenen Logik. Das Tastgefühl hingegen bestätigt das Anderssein des Körpers, das es berührt. Die Berührung kann nicht vereinnahmen, zu eigen machen – sie kann ihr Objekt nur näher und näher bringen. Von einer Erfahrung oder einer Geschichte, die uns tief bewegt, sagen wir, „dass sie uns berührt“.

Die Berührung ist aber auch derjenige Sinn, durch den wir den Schmerz erleben. Die Weise, wie der Schmerz den Kontakt zu uns herstellt, hat nichts Zögerliches oder Verschwommenes es an sich: Er stösst ohne Umschweife zum Kern unserer Identität vor und ruft unsere Verletzlichkeit und Verzweiflung wach.

Es ist mittlerweile erwiesen, dass jedes Kind der Berührung bedarf. Berührung teilt Zugehörigkeit mit, Zärtlichkeit und Wärme, und die sind die unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass das Kind Selbstvertrauen, ein gesundes Selbstwertgefühl und innere Sicherheit entwickeln kann.

Tastgefühl und Berührungen haben deswegen eine so grosse Bedeutung für uns, weil wir innerhalb der wunderbaren Welt der Haut leben. Unsere Haut lebt und atmet, ist ständig aktiv und gegenwärtig. Wir Menschen sind zu solcher Zärtlichkeit und Sensibilität fähig, weil wir nicht in einer Schale oder einem Panzer wohnen, sondern in einer Haut, die stets empfindlich auf die Kräfte, die Berührungen und die Gegenwart der Welt reagiert.

Das Tastgefühl ist eine der unmittelbarsten und direktesten Sinne überhaupt. Die Sprache der Berührung ist eine ganz eigene Sprache. Wenn sie in ihre innere Seelenwelt blicken, fragen Sie sich, wie weit ihr Tastgefühl entwickelt ist. Wie berühren Sie? Wie spüren sie Dinge? Haben Sie ein echtes, lebendiges Gefühl für die Macht der Berührung als einer zugleich sinnlichen, zärtlichen und heilenden Kraft? Die Rückgewinnung des Gespürs kann unserem Leben neue Tiefe verleihen – und sie kann uns heilen, stärken und uns selbst näher bringen.
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Das Tastgefühl ist ein unmittelbarer Sinn es kann uns aus der Welt äusseren Bilder herausholen. Die Wiederentdeckung des Berührungssinns führt uns zurück an das Herdfeuer unseres Geistes, wo wir wieder Wärme, Zärtlichkeit und Zugehörigkeit erfahren können.

In Augenblicken äusserster Intensität verstummt alle menschliche Rede. Dann ergreift die Sprache der Berührung das Wort. Wenn wir im finsteren Tal des Schmerzes umherirren, büssen Worte all ihre Bestimmtheit und Aussagekraft ein. Trost und Geborgenheit kann nur eine liebevolle Berührung, eine Umarmung schenken.
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